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Blog Biointelligenz

Von flinken Fingern und künstlichen Muskeln

In meinem ersten Blogbeitrag habe ich beschrieben, wie eine Wissenschaftssendung vor vielen Jahren in mir die Faszination für künstliche Muskel geweckt hat. In dieser Zeit hat sich die sehr kleine Interessengemeinschaft internationaler Wissenschaftler, die sich mit der Aktuatorik befasst, zu einer ernstzunehmenden Industrie entwickelt. Aber zunächst möchte ich erklären, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist.

Bitte beachten Sie, dass es sich bei diesem Beitrag um keine Pressemitteilung, sondern um einen Blogpost handelt.

Die EAP-Challenge

Wie bei Materialinnovationen üblich, suchte das Militär nach neuen Hochleistungsstoffen, um beispielsweise kleinere Roboter, adaptive Schutzkleidung oder gar künstliche Gliedmaßen für verwundete Soldaten herstellen zu können. In den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) schrieb die für Militärforschung zuständige Behörde, Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), ein Forschungsprogramm mit dem Ziel der Entwicklung künstlicher Muskeln aus. Da nun die Forscher über ausreichende Mittel verfügten, entstand ein regelgerechter Wettbewerb, wer den stärksten künstlichen Muskel entwickeln würde. Als Highlight trafen sich die Forscher einmal im Jahr auf der International Socity for Optics and Photonics (SPIE). Auf der Konferenz ließen sie die künstlichen Muskeln spielen. Dr. Yoseph Bar-Cohen lud dort nämlich zur jährlichen Elektroaktive Polymere (EAP) Challenge. Bei diesem »Armdrücken« der Systeme konnte ausgelotet werden, welche EAPs die meisten Potenziale hinsichtlich einer erfolgreichen technischen Umsetzung haben.

Klein, aber fein oder warum größer nicht immer besser ist

Obwohl die EAPs von ihren intrinsischen Materialeigenschaften dem menschlichen Muskel überlegen sein müssten, zeigte sich schnell, dass jedes (untrainierte) Schulkind mit Leichtigkeit die EAP-Challenge gewinnen würde.

Das erste Problem hierbei ist, wie so oft, ein Skalierungsproblem. Nehmen wir beispielsweise Kohlenstoff-Nanoröhrchen (CNT) als Ausgangsmaterial, um einen EAP-Aktuator aufzubauen. Die intrinsischen Eigenschaften einer einzelnen CNT sind enorm. Sie zeigen eine große Auslenkung bei sehr hohen Kräften. Eben diese Kombination ist von großer Bedeutung, da künstliche Muskeln entweder hohe Kräfte haben, wie beispielsweise Piezokristalle, oder eben große Ausdehnungen ermöglichen. Beides zusammen aber nie. Nun könnte man meinen, dass mit der Nutzung von CNT das Problem von großen Kräften bei gleichzeitig großer Ausdehnung gelöst sei.

Und hier die gute Nachricht: Ja, das Problem ist gelöst, sofern eine CNT als Aktuator ausreicht. Eine CNT ist in der Regel ein Mikrometer (1 µm = 1000 nm = 0,001 mm) lang und um die zehn Nanometer dick. Im Vergleich: Ein menschliches Haar ist ungefähr 70 000 nm dick. Um CNT als Aktuator für gängige Anwendungen in der makroskopischen Welt nutzen zu können, benötigt man mehrere Milliarden CNTs. Diese CNTs müssen in ein Matrixmaterial eingebettet und elektromechanisch verbunden werden. Aber genau bei diesem Hochskalieren verliert der Aktuator viel von seinen intrinsischen Eigenschaften.

Die Natur als genialer Ingenieur

Auf der Suche nach einer Erklärung, warum die Leistungsfähigkeit von EAP-Aktuatoren eher ernüchternd sind, zeigte sich schnell, dass die Natur dem Menschen im Engineering weit überlegen ist. Die menschliche Muskelfaser ist kein besonders beeindruckender Aktuator. Studien zeigen, dass nahezu alle künstlichen Muskeln mehr Kraft und Auslenkung erzeugen können. Aber die Natur hat es geschafft, die Muskelfasern zu einem System zusammenzuführen, die in Summe alle EAP schlagen.

In dieser Erkenntnis liegt meines Erachtens eine große Chance. Der Mensch hat im Laufe seiner Entwicklung gelernt, die Welt zu begreifen und technische Hilfsmittel zu entwickeln. Hierbei bedienen wir uns im Wesentlichen dem Wissen aus Mechanik, Kinematik und der Physik. Der Ingenieur denkt in einzelnen Komponenten wie Antriebe, Hebel, Gelenke und kombiniert diese zu einer Gesamtlösung. In der Natur funktioniert offensichtlich alles etwas anders: ganzheitlich, multifunktional und lösungsbasiert. Die Natur führt in einzigartiger Weise Bausteine zu höchst leistungsfähigen, selbstheilenden, adaptiven Systemen zusammen. Im Rahmen der Bionik und Bioökonimie besteht also eine Chance von der Natur zu lernen und so die Skalen- und Integrationsprobleme der Aktuatorik mit neuen wissenschaftlichen Ansätzen zu lösen. Einer der ersten Wissenschaftler, der, von der Natur inspiriert, neue EAP-Aktuatoren aufgebaut hat, ist Prof. Ray Baughmann der Unversity of Texas Dallas (UTD). Er wob CNTs zu Fasern, auf engl. Yarns, die sich durch außergewöhnlich gute elektromechanische Eigenschaften auszeichnen. Diese Yarns können vielleicht in naher Zukunft die heute sperrigen Exoskelette durch smarte Textilien oder sogar menschliche Muskeln ersetzen

Softrobotic als Treiber für EAPs

Die Einsatzpotenziale von EAPs sind enorm. Allerdings reichen die Kräfte, die EAPs erzielen, heute für sinnvolle Anwendungen noch nicht aus. Dennoch stoßen EAP-Aktuatoren auf ein vermehrtes Interesse in der Automatisierungstechnik.

Picker und Kommissionierer

Einer der größten Profiteure der Corona-Krise war bisher der Onlinehandel. Nahezu alle Güter können bequem online bestellt und nach Hause geliefert werden. Versandhändler und mit ihnen die Logistikdienstleister konnten innerhalb der vergangenen Jahre beeindruckende Wachstumszahlen erzielen und Experten gehen davon aus, dass dieser Trend noch weiter anhält.

Bevor wir unsere Bestellung durch einen Paketdienstleister zuhause entgegennehmen können, wurde diese in der Regel in einem Distributionszentrum oder Zentrallager zwischengelagert. Große Versanddienstleister beschäftigen in ihren Lagern Kommissionierer, Menschen, die von Hand unsere Bestellungen aus einem Lagerplatz entnehmen und zu einem versandfertigen Paket zusammenstellen. Der Grund, dass Menschen und nicht Roboter diese Aufgaben übernehmen, liegt zum Teil an den noch zu hohen Automatisierungskosten, größtenteils jedoch an der enormen Flexibilität des Menschen.

Wunderwerk Hand

Die menschliche Hand ist als Greifwerkzeug hinsichtlich Flexibilität nahezu unübertroffen. Vor allem in schwierigen Situationen ist der Mensch der Maschine überlegen. Die Hand kann nicht nur greifen, sondern auch fühlen. Ob der Schlüsselbund unter dem Sofa liegt, die Schraube am Küchenregal verdeckt oder der Kabelbaum in einen Automobil verbaut ist: der Mensch kann sich vorantasten, der Roboter (noch) nicht. Verdeckte Bauräume, aber auch bereits anspruchsvolle Arbeitsumgebungen mit Ölnebel, Reflexionen, Abschattungen etc. können den Einsatz von Automatisierungstechnik vereiteln.

Ein weiteres Problem ist die Steuerung der Kräfte. Bei kraftschlüssigen Greifern muss die Haltekraft die Gewichtskraft des Objekts übersteigen. Hier gilt es, ein Optimum zu finden: Bei zu wenig Haltekraft kann das Objekt nicht sicher gehalten werden, bei zu viel Haltekraft kann das Objekt beschädigt werden. Die optimale Haltekraft ist insbesondere in der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft eine große Herausforderung. Denken wir nur an die Erdbeerernte. Die empfindlichen Früchte müssen nach ihrem Reifegrad beurteilt und vorsichtig gepflückt werden. Das geht heute nur in Handarbeit.

Feinfühlige EAP-Greifer

EAPs sind immer Aktuator und Sensor zugleich. Dies bedeutet, EAP können als Greifwerkzeug genutzt werden, aber eben auch als Sensor. Bereits die Bewegung eines EAP-Aktuators kann reproduzierbar gemessen und beurteilt werden. Durch seine präzise Steuerung besitzt der EAP-Aktuator gute Voraussetzungen, sich einem Objekt zu nähern und es zu greifen.

Ein EAP-Aktuator ist umgeben von elektromagnetischen Feldlinien. Werden diese durch ein Objekt gestört, erkennt er das Objekt bereits vor dem Zugreifen. Auf diese Weise können nicht nur Objekte erkannt, sondern auch Kollisionen mit der Umgebung vermieden werden. Hat der EAP-Aktuator das Objekt erkannt, kann er zugreifen. Hierbei tritt ein weiteres Phänomen von EAPs auf. Beim Kontakt »verstimmt« sich der Aktuator – seine elektrochemischen Eigenschaften verändern sich aufgrund der Dichteänderung durch die Kompression. Diese Veränderung kann genutzt werden, um die Kraft des Aktuators zu regulieren und ermöglicht so ein feinfühliges, zerstörungsfreies Greifen.

Zwischenfazit

EAPs haben seit den ersten Projekten der DARPA nichts an ihrer Faszination verloren. Ganz im Gegenteil! Nachdem die Wirkmechanismen verstanden worden sind, befassen sich heute Forscher mit wichtigen Fragen rund um die Skalierung der EAP. Hierbei sind zwei Trends erkennbar: Anwendungen von EAPs in Textilien wie auch jene der UTD oder in gedruckten Schichten, wie sie das Fraunhofer-Institut für Automatisierung und Produktionstechnik IPA verfolgt. Einer industriellen Herstellung von künstlichen Muskeln aus EAPs steht nichts Wesentliches im Wege. Bevor wir aber Greifer und Muskeln aus EAPs am Markt sehen, werden EAPs vermutlich als Sensoren in der Automatisierungstechnik genutzt. Das IPA ist aktuell in mehreren Projekten aktiv, in denen EAP Robotern helfen, ihre Umgebung zu erkennen und somit sicherer und produktiver zu werden. Aber das IPA nutzt auch EAPs für interaktive Oberflächen in einer Vielzahl von nichtrobotischen Anwendungen und macht so die Welt ein bisschen smarter.

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