Bitte beachten Sie, dass es sich bei diesem Beitrag um keine Pressemitteilung, sondern um einen Blogpost handelt.
Das Szenario
Stellen Sie sich vor, Sie fahren in ihrem schicken neuen Auto durch den Wald. Wie von Geisterhand zeichnen sich die Konturen von Baumrinde dreidimensional auf den Oberflächen im Fahrerbereich ab, überall dort wo sich keine Displays und Bedienelemente im Cockpit befinden. Die Straße führt Sie nun aus dem Wald heraus und windet sich entlang der Küste, das Sonnenlicht spiegelt sich in den Wellen des Meeres. Sofort verändern sich die Formen zu wellenförmigen Aufwölbungen, die sich dynamisch über die Oberflächen im Armaturenbrett und der Mittelkonsole ziehen. Das Auto bietet Ihnen eine haptisch erlebbare Interaktionsmöglichkeit, quasi die dritte Dimension der Fahrerinformation.
Der Sinn
»Was für ein Quatsch, das braucht doch kein Mensch!« – mögen Sie als vernunftorientierter und vielleicht nicht unbedingt technikbegeisterter Leser denken. Doch spinnen wir den Gedanken einmal weiter. Denn bei solchen technologischen Gimmiks handelt es sich keineswegs nur um eine sinnlose Spielerei für die oberen Zehntausend, sondern vielmehr um eines der wenigen verbleibenden Differenzierungsmerkmale zukünftiger Automobile. Der Wettbewerb um möglichst atemberaubende und effektheischende Funktionalitäten ist hier bereits in vollem Gange! Ein Beispiel: Das neue Konzept-Car iX Flow von BMW kann per Knopfdruck die Farbe seiner Karosserie von schwarz zu weiß und wieder zurück verändern, sogar die Darstellung von Mustern ist möglich. Mit diesem noch nie dagewesenen Feature war das Fahrzeug eines der Highlights auf der CES 2022 in Las Vegas und wurde als Meisterleistung der Technik gefeiert, allerdings ist eine Serienfertigung derzeit noch unklar. Die Frage ist also nicht, ob wir formadaptive Lenkräder und wabernde Mittelkonsolen im Auto brauchen, sondern wer diese Technologie zuerst zur Serienreife entwickelt und als Kaufargument richtig zu vermarkten weiß.
Die Zukunft
Machen wir gemeinsam einen Ausflug 10 Jahre in die Zukunft! Die Mehrzahl der neuzugelassenen Autos fährt elektrisch, die Batteriezellen kommen von den gleichen asiatischen Herstellern, der Antriebsstrang ist branchenweit und über alle Marken hinweg nahezu identisch, Sicherheitserweiterungen und Funktionsverbesserungen werden per Over-the-air-Updates mit 5G Technologie ins Fahrzeug gebracht. Nennenswerte Unterschiede und Alleinstellungsmerkmale gibt es hauptsächlich im Exterieur- und Interieur-Design, aber auch beim Infotainment-System und im Bereich der Fahrer-Fahrzeug-Interaktion. Infolge fortschreitender Digitalisierung entfallen Knöpfe, Schalter und Regler, was das Erscheinungsbild des Fahrzeugraums komplett verändern wird. Es werden Flächen frei, die nicht leer bleiben wollen. Der Kunde erwartet hier neue Funktionalitäten und flexible Nutzungsmöglichkeiten, die möglichst über farbveränderliche LED-Bänder und kristallklare Bildschirme hinausgehen. Neue HMI-Konzepte wie z. B. oberflächenintegrierte Anzeigen (Black-Panel-Technologie), polymorphe Instrumententafeln mit adaptiven Displays, Bedienelemente in 3D mit haptischem Feedback, hologrammbasierte Touchscreens u. v. m. verändern nachhaltig die Interaktion zwischen Fahrer, Insassen und dem Fahrzeug.
Verschiedene Hersteller suchen seit Jahren nach smarten Oberflächenmaterialien, die eine reversible dreidimensionale Gestaltänderung und somit völlig neuartige technische Funktionen erlauben. Dabei variieren die Anwendungsszenarien von der Darstellung beweglicher Formen und Konturen, beispielsweise für formveränderliche Designelemente, bis hin zu sogenannten »Morphing Controls«, d. h. Gestalt annehmenden Bedienelementen, wie sie z. B. von Continental bereits in stark vereinfachter Form vermarktet werden.
Die Technik
Doch wie kriegt man sowas wie form- und texturveränderliche Oberflächen denn überhaupt technisch hin? Wie kann man Bilder in 3D auf einer ebenen oder gar gekrümmten Fläche darstellen, idealerweise dynamisch, mit frei wählbaren und sich über die Oberfläche bewegenden Formen.
Die Verwendung konventioneller Aktortechnologien würde den Einsatz hunderter miniaturisierter Elektromotoren, Stellzylinder oder Pneumatik-Ventile erfordern. Die damit verbundene schwere, komplexe und raumeinnehmende Mechanik führt daher in den meisten Anwendungsfällen zum Ausschluss solcher Technologien, von den immensen Kosten ganz zu schweigen. Steuerbare Oberflächen sind also idealerweise mit intrinsisch aktuierbaren Materialien zu verwirklichen. Diese sind in der Biologie weit verbreitet und finden sich beispielsweise in flächigen Hautmuskelgeweben von Oktopoden. Ihre sogenannten Papillenmuskeln erzeugen durch gezielte Kontraktionen lokale Krümmungen, Erhebungen und Ausstülpungen in der Haut und befähigen die Tiere somit zur Tarnung durch adaptive Texturierung.
Elektroaktive Polymere als potenzielle Enabler-Technologie
Konzepte zur gezielten Änderung der Farben und Formen von Oberflächen sind also häufig biologisch inspiriert. Das Imitieren von biologischen Muskeln durch synthetische Materialverbünde ist hier das Stichwort. Zu den wenigen synthetischen Materialien mit intrinsischer Verformbarkeit gehören ionische elektroaktive Polymere (EAPs). Ähnlich wie in der Botanik und der Zoologie erfolgt auch deren Verformungsmechanismus durch Ionenverschiebungen zwischen benachbarten Schwellkörpern. In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich bereits über die Potenziale dieser weichen und leisen Stellglieder berichtet, und auch über deren noch unzureichende Leistungsmerkmale und ihre Empfindlichkeit gegenüber Umweltfaktoren.
Die Herausforderung
Bei der Realisierung einer 3D-veränderlichen Oberfläche mit ionischen EAP-Aktoren sind möglichst viele Einzelaktoren pro Flächeneinheit erforderlich. Eine Miniaturisierung der EAPs ist somit unumgänglich. Als Basis dient ein im Technikumsmaßstab erprobter und teilautomatisierter Fertigungsprozess am Fraunhofer IPA. Wichtig ist außerdem die zuverlässige elektrische Kontaktierung der miniaturisierten Einzelaktoren sowie die Anordnung einer robusten und effizienten Leiterbahntrassierung für deren Ansteuerung. Im Forschungsprojekt »AdapTEX« werden deshalb neue Methoden zur Herstellung solcher EAP-Aktorfelder untersucht.
Um also form- und positionsveränderliche Knöpfe und Bedienelemente mit EAPs zu realisieren, ist es hilfreich, sich am biologischen Vorbild zu orientieren. Biologische, sich verformende Systeme »kennen« zu jeder Zeit ihren aktuellen Verformungszustand. Dieses biologische Prinzip der sensorischen Rückkopplung ist für eine präzise und zu jedem Zeitpunkt kontrollierte Verformung der Oberfläche unerlässlich. Daher benötigen EAP-Aktorfelder sensorische Eigenschaften, die bei einzeln vermessenen EAP-Aktoren bereits nachgewiesen werden konnten. Unser Ziel ist die Entwicklung einer künstlichen Muskelhaut, deren Verformung man frei programmieren und steuern kann und die sich für viele Anwendungen einsetzen lässt.