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Erstmals wird der Gedanke greifbar, dass der Mensch sein Handeln in der Natur reflektieren und nicht mehr automatisch durch Gott entschuldet werden könne, sondern sich selbst verantworten müsse. Dies ist auch die Geburtsstunde der Auffassung, dass der Mensch der Schöpfung Schaden zufügt, dazu überhaupt im Stande ist. Die Naturbeschreibung wird wissenschaftlich, die Systematisierung der Arten durch Linné im 18. Jahrhundert in die »Naturreiche« Tiere, Pflanzen und Mineralien sowie die fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät schafft einen objektivierenden Blick – und offenbart damit die moderne Sonderstellung des Menschen, der sich allen romantischen Bemühungen zum Trotz neben der Natur befindet.
Der gegenwärtige Naturdiskurs ist demgegenüber stark vom Verdikt einer bedrohten Natur geprägt. Breite gesellschaftliche Debatten um Klima, Rohstoffe, Landnutzung oder Biodiversität charakterisieren unser Zeitalter als »Ära der Ökologie« (Joachim Radkau) und »Anthropozän« (Paul Crutzen). Trotz der anthropologischen Sorgenfalten ist die Sehnsucht nach einer kontemplativen Einkehr in die Natur aber keineswegs verflogen – im Gegenteil: An diesem Wunsch hat das moderne Leben mit seinen virtuellen Optionen der Naturerfahrung und Naturoptimierung etwa in der Biomedizin nichts verändert. Vielleicht haben ihn Digitalisierung und Homeoffice-Normalität sogar noch verstärkt, wie man am Zuspruch für das Tauchen, Angeln, die Jagd, das Klettern und viele andere Outdoor-Aktivitäten ablesen kann.
Hinzu kommt eine große Bewegung des ökologischen Konsums, der Gärtnerns oder des saisonalen und regionalen Kochens seit der Jahrtausendwende. Es sind Kulturpraktiken aus Freude am Konkreten ebenso wie aus Überdruss an der Allverfügbarkeit des Notwendigen. Sie spiegeln die Sehnsucht nach Rückbindung an etwas wider, was wir als elementar empfinden und zunehmend verloren glauben. Dazu gehören auch jahreszeitliche Bezüge, die wir angesichts der ganzjährigen Verfügbarkeit von Lebensmitteln im Kühlregal nicht mehr beachten müssten – und gerade deshalb wieder schätzen.
Doch wie gut kennen wir »die Natur«, von der pausenlos in jeder Werbung und politischen Standortbestimmung die Rede ist, eigentlich noch angesichts eines zunehmend medialisierten Naturzugangs? Fällt uns das Erkennen heimischer Greifvögel oder der Hauptgetreidearten ebenso leicht wie das Verständnis statistischer Zusammenhänge der Erderwärmung oder der Ausbreitung einer Pandemie? Inwieweit liegt in der gegenwärtigen Zuspitzung des Naturbegriffs auf die Klimaerwärmung vielleicht auch eine Verengung, verglichen etwa mit den stark von regionalen Umweltschutzthemen geprägten 1970er und 1980er Jahren? Ist der Mensch, wie der Frankfurter Philosoph Martin Seel zuspitzt, also wirklich zum Garanten der Natur geworden, oder überhöht er sich mit solchen Wertungen selbst, wie er es seit der Neuzeit tut?