Elegant geschwungene Sitzmöbel, die in einem flachen Karton geliefert werden und sich nach dem Auspacken über Nacht ganz von selbst in Form bringen – wer je über der Bauanleitung eines Möbelstücks gerätselt hat, mag dies als Traum empfinden. Wirklichkeit wird er durch HygroShape, dem ersten Konzept für Möbel, das auf die Formkräfte der Natur setzt und diese mit den Möglichkeiten der Digitalisierung verbindet. Entwickelt wurde das Konzept am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD)der Universität Stuttgart unter der Leitung von Prof. Achim Menges.
Mit HygroShape machen sich die Forschenden Dr. Dylan Wood und Laura Kiesewetter am ICD eine intrinsische Eigenschaft von Holz zu Nutze, die jeder Tischler oder Schreiner kennt: Die Zellwände dehnen sich in nassem Zustand aus und ziehen sich beim Trocknen zusammen, wobei die Steifigkeit genau mit der Änderung des Feuchtigkeitsgehalts korreliert. Trocknet Holz unkontrolliert, kommt es aufgrund dieses hygroskopischen Schwindens zu unerwünschten Verformungen, das Material „verzieht sich“. Versteht man die Kräfte jedoch, lassen sie sich für gezielte Formänderungen nutzen, die ausschließlich durch das Material getrieben sind – und das in aller Stille, ohne menschliches Zutun, Werkzeug oder Montageanleitung. Einmal geformt, verriegeln sich die Teile mechanisch und schaffen so Stabilität.
Nadelbäume stehen Pate
Das biologische Prinzip für die passive Selbstformung haben sich die Stuttgarter Forschenden unter anderem bei den Zapfen von Nadelbäumen abgeschaut. Deren Schuppen bestehen aus anisotropen Faserverbundwerkstoffen, die eine Doppelschicht bilden. Solange der Zapfen lebt, wird in dieser Doppelschicht ein hoher Wassergehalt beibehalten. Fällt der Zapfen vom Baum, trocknen die Schuppen, biegen sich langsam auf und geben die Samen frei. Die physikalisch-mechanischen Eigenschaften solcher Verbundmaterialien digitalisieren die Forschenden im HygroShape-Konzept mithilfe fein abgestimmter rechnergestützter Designmethoden und berechnen eine spezifische Materialsyntax, um das Material auf die geplante Verformungssequenz einzustellen.
Auf der Basis dieser spezifischen Syntax werden flache, mehrschichtige Holzbauteile hergestellt, die eine ausgefeilte innere Zusammensetzung sowie einen definierten Feuchtigkeitsgehalt aufweisen. Mithilfe eines computergestützten Designtools werden die Bretter dann in maßgeschneiderten Anordnungen arrangiert, die die anschließende Formung steuern und koordinieren. Durch diese physische Kodierung wird jedes Stück in flachem Zustand so programmiert, dass eine definierte gekrümmte Geometrie entsteht, wenn die Feuchtigkeit reduziert wird. Schließlich werden die Teile versiegelt zum Endverbraucher transportiert und dort einer Umgebung ausgesetzt, die deutlich trockener ist als die Produktionsumgebung, was die Formungssequenz aktiviert.
Das digitale Design erlaubt es, natürliche Materialien mit höherer Variabilität zu nutzen und öffnet gleichzeitig die Tür zu einer neuen Formsprache. Seit einigen Jahren werden Möbel nämlich aus Kostengründen häufig in kompakten, flachen Paketen transportiert und erst vor Ort zusammengebaut, was das Möbeldesign überwiegend auf gerade oder eckige Formen einengt. Das einzigartige Materialverhalten eines HygroShape-Teils dagegen bringt elegante Kurven und schlanke Flächen hervor, standardmäßige Winkelverbindungen oder mechanische Beschläge entfallen. „Die Selbstformung führt ihrer Natur nach zu einem ehrlichen und klaren Design“, sagen die Forschenden. „Das Ergebnis ist eine stabile und doch nachgiebige Struktur, die dynamisch mit dem Körper interagiert.“
Noch handelt es sich bei den mit der HygroShape-Technologie gefertigten Möbeln – ein Loungesessel und eine Chaiselongue – um Einzelstücke. Doch mit ihrem Spinn-off Unternehmen hylo-tech möchten die Forschenden die Markttauglichkeit der Technologie anhand einer limitierten Serie testen. Unterstützt wurde das Projekt mit einer internen Förderung aus dem Wissens- und Technologiefonds der Universität Stuttgart sowie durch die Firmen Henkel AG, Schönweiler GmbH und Gettylab.