Ein transparentes Fasergespinst, mehrgeschossig und federleicht: Das „Maison Fibre“ scheint fast zu schweben – eine entmaterialisierte Architektur. Präsentiert von den Instituten für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) sowie für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) im Arsenal der Architektur-Biennale 2021 in Venedig, vermittelt das Maison Fibre den Besucherinnen und Besuchern die räumliche Erfahrung und den konstruktiven Eindruck eines „Gebäudes“, dessen Bauelemente aus nur wenigen Kilogramm Werkstoff hergestellt werden können. Und das teilweise sogar direkt vor Ort.
Maison Fibre 2021 - 17th International Architecture Exhibition – La Biennale di Venezia
Beides ist dringend nötig, um die großen ökologischen und sozialen Herausforderungen beim Bauen zu meistern. Denn derzeit ist es üblich, sich eine einfache Bauausführung mit einem Mehrbedarf an Material zu erkaufen – kaum eine andere menschliche Aktivität verbraucht mehr Ressourcen und setzt mehr Emissionen frei als das Bauen. Es bedarf also dringend neuer Denkansätze. „Unser Beitrag zur Biennale hinterfragt die vorherrschende materialintensive Bauweise und ersetzt diese durch eine Architektur aus Fasern, die nur einen Bruchteil an Materialien verbraucht und vollkommen neue Möglichkeiten der Materialisierung bietet“, sagt Prof. Achim Menges.
Der Architekt ist der Sprecher des Exzellenzclusters Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) an der Universität Stuttgart und leitet das ICD. „Im Vergleich zu Le Corbusiers Maison Dom-Ino, einem prägenden Vorbild für die Architektur des 20. Jahrhunderts, ist das Gewicht von Maison Fibre um das Fünfzigfache reduziert und verweist somit auf eine neue Materialkultur.“ Diese umfasst nicht nur die Architektur, sondern auch die damit verbundenen ökologischen (Material und Energie), ökonomischen (Wertschöpfungsketten und Wissensproduktion), technischen (digitale Technologien und Robotik) und soziokulturellen Fragen.
Erste mehrgeschossige Faserstruktur der Welt
Der Impuls zu diesem Paradigmenwechsel kommt aus der Natur: Fast alle tragenden Strukturen in der Biologie sind Faserstrukturen, bei denen Orientierung, Richtung und Dichte der Fasern genau an die einwirkenden Kräfte angepasst sind. Das macht sie differenziert, funktional und ressourceneffizient zugleich. Das biomimetische Prinzip von „weniger Material durch mehr Form“ wird an der Universität Stuttgart seit vielen Jahren erforscht und schlug sich unter anderem in mehreren weltweit beachteten Ausstellungspavillons nieder. Die dabei gewonnene Erfahrung mit robotisch gefertigten Faserverbundstrukturen wenden die Forschenden nun erstmalig auf begehbare Decken- und Wandelemente für das mehrgeschossige Bauen an. „Maison Fibre ist die erste mehrgeschossige Faserstruktur ihrer Art. Sie basiert auf einem extrem leichten, digitalen Bausystem, das nur aus Fasern besteht. Dieses hätte noch vor wenigen Jahren weder geplant noch gefertigt werden können“, betont Menges.
Aus der Industrie in die Architektur
Die gesamte Struktur besteht aus sogenannten Rovings, das sind Bündel aus endlosen, unidirektionalen Fasern. Hergestellt werden die tragenden Wand- und Deckenelemente in einem von den beiden Instituten entwickelten robotischen Wickelverfahren, das seine Wurzeln in der Industrie hat. Dort wird das „filament winding“ eingesetzt, um langgestreckte, rotationssymmetrische Bauteile wie etwa Rohre herzustellen. Dabei werden Fasern mit Hilfe einer Wickelmaschine auf einem rotierenden, zylindrischen Kern abgelegt.
Überträgt man dieses Verfahren auf die Architektur, stellt sich allerdings ein Problem, erklärt Christoph Zechmeister, Doktorand am ICD: „Die Form des Bauteils ist an die Form des Kerns gebunden. Für die kostengünstige Massenproduktion ist das okay, aber in der Architektur brauchen wir mehr Flexibilität. Daher haben wir schon bei einem früheren Faser-Pavillon überlegt, ob man den Kern nicht einfach weglassen kann.“ Die Idee funktionierte, und so spannen die Forschenden an ICD und ITKE die Fasern nun frei im Raum über einem Gestell. „Parameter für die Formgebung sind dabei die Form des Rahmens sowie die Fasern selbst“, sagt Zechmeister. „Die ersten Fasern bilden die Stützstruktur für die nachfolgenden.“
Gewickelt wird übrigens vollautomatisch mit Hilfe eines Roboters. „Wir greifen nur ein, um das Material zu wechseln oder den Roboter zu bedienen.“ Der kontinuierliche Formgebungsprozess erlaubt nicht nur große Freiheitsgrade beim Design, sondern sorgt auch für einen extrem geringen Materialverbrauch. Dabei machen sich die Forschenden die sogenannte Anisotropie zunutze, also den Umstand, dass Fasern in unterschiedlichen Richtungen unterschiedliche Eigenschaften haben. Dadurch können die Fasern sehr differenziert auf die jeweiligen Erfordernisse abgestimmt werden. Die vergleichsweise schweren Carbonfasern zum Beispiel kommen nur dort zum Einsatz, wo sie für die Lastabtragung wirklich gebraucht werden, und auch die Faserstärke richtet sich flexibel nach der jeweiligen Beanspruchung. Für die Fertigung eines tragenden Bodenelements wird so ein Materialvolumen von weniger als zwei Prozent des Bauteilvolumens gebraucht.
Gesamte Fertigung vor Ort ermöglichen
Der sparsame Materialeinsatz zahlt sich aus: Das Gewicht der Faserstruktur ist um ein Vielfaches geringer als bei vergleichbaren Betonkonstruktionen – die tragende Faserkonstruktion der Bodenelemente im Obergeschoss wiegt gerade einmal 9,9 kg/m². Die Wandelemente fallen noch deutlich leichter aus. Das bringt gleich mehrere Vorteile, erläutert Prof. Jan Knippers, einer der Direktoren des Exzellenzclusters IntCDC und Leiter des ITKE: „Der Prozess ermöglicht es perspektivisch, die gesamte Fertigung vor Ort auszuführen, ohne dass dabei Lärm oder Abfall in nennenswertem Umfang entstehen. Das geringe Gewicht wiederum erleichtert die Montage erheblich, da keine schweren Transportmittel, Gerüste oder Hebevorrichtungen notwendig sind.“
Dies trifft nicht nur auf den erstmaligen Erstellungsprozess zu, sondern auch auf Erweiterungs- oder Umbauarbeiten. So bleibt die mit dieser Bauweise errichtete Architektur langfristig anpassungsfähig und flexibel. Noch nutzt Maison Fibre die derzeit verfügbaren Faser- und Harzsysteme. Das Konzept ist jedoch materialübergreifend einsetzbar, und schon in naher Zukunft wird sich das Materialspektrum erheblich erweitern, so die Hoffnung der Forschenden. „Unter anderem erforschen wir mineralische Fasersysteme, die extremen Temperaturbeanspruchungen standhalten können, oder natürliche Fasern, die innerhalb eines Jahreszyklus nachwachsen“, verraten Menges und Knippers.