Schon seit langem dient die Natur dem Mensch als Vorbild, angefangen bei einem Transfer von Naturphänomenen auf technische Anwendungen, wie beispielsweise dem Lotuseffekt, bis hin zu den heute gängigen technisch-biologischen Prozessen in der Biotechnologie.1) Für den Klimaschutz der Zukunft müssen die Bemühungen jedoch noch intensiviert werden, die mit einem geringeren und nachhaltigeren Ressourcenverbrauch einhergehen und einen grundlegenden Wandel in der Wirtschaft beinhalten, wie auch die Verhandlungen und Ergebnisse des UN-Klimagipfels im November 2021 in Glasgow nahelegen.
Einen Ansatz für eine zukunftsorientierte Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft sehen Expertinnen und Experten in der Verschmelzung von Biologie, Technik und Informationstechnik zu einer biointelligenten Wertschöpfung. Die Biointelligenz ist damit die Triebkraft für eine Biologische Transformation. Ziel ist die Konvergenz, also die Annäherung von unterschiedlichen, bisher getrennt agierenden Technologiebereichen, wie Bio-, Material- und Produktionstechnologie sowie Automatisierungs- und Informationstechnik. Die daraus entwickelten Innovationen sollen Einzug in die verschiedenen Lebensbereiche der Menschen, wie Ernährung, Gesundheit, Wohnen, Energie und Konsum, erhalten.2)
Mini-Gehirne besser verstehen
Im Bereich „Biointelligente Gesundheit“ wird beispielsweise am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart im Rahmen eines EU-Projekts erforscht, wie mittels 3D-Druck personalisierte Implantate, unter anderem für Bänder und Sehnen, hergestellt werden können. Diese Implantate auf Basis von Kollagen und Gelatine sollen die Regeneration von geschädigtem Gewebe fördern und beschleunigen.
Ein weiterer Ansatz ist die Verwendung von Organoiden in der Gehirnforschung. Mithilfe dieser Zellzusammenlagerungen aus Nervenzellen, den sogenannten „Mini-Gehirnen“, soll die neuronale Netzwerkaktivität des Gehirns untersucht werden, um neurologische Krankheiten wie Parkinson besser verstehen zu können. Forschende des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts NMI in Reutlingen haben daher für ein Gehirn-Organoid eine netzartige Mikroelektroden-Hängematte entwickelt, mit der man die Weiterleitung der Signale im Inneren des runden Körpers besser messen kann: ein bedeutender Schritt in der In-vitro-Forschung des Gehirns.
Wasserstoff als Energieträger der Zukunft
Dass auch die Energieversorgung „biointelligent“ werden soll, überrascht nicht. Ein Energieträger könnte Wasserstoff aus Biomasse sein. Dieser grüne Wasserstoff wird dafür aus pflanzlichen und tierischen Reststoffen gewonnen, beispielsweise mithilfe von Mikroorganismen unter Einsatz des sogenannten HyBECCS-Verfahrens (Hydrogen Bioenergy with Carbon Capture and Storage). Der gezielten CO2-Abscheidung und -Speicherung (BECCS) kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Durch das biointelligente Zusammenspiel von Biotechnologie, Informations- und Produktionstechnik entsteht klimapositiver Wasserstoff, der Perspektive für eine Energie der Zukunft hat.
Biointelligenzstrategie für Baden-Württemberg
Eine Strategie für die Umsetzung der Biointelligenz zeigt die Broschüre „Potenzialanalyse und Roadmapping Biointelligenz für Baden-Württemberg“,4) die unter Federführung der BIOPRO Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe erstellt wurde. Denn für die Umsetzung der Innovationen ist auch eine Anbindung an den starken Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg und seine Unternehmenslandschaft von großer Bedeutung. Die modulare Aktions-Roadmap bezieht auch den unterschiedlichen Stand der Technik der einzelnen Bedarfsbereiche mit ein. Und auch, wenn die Biointelligenz noch kaum Einzug in die verschiedenen Branchen gehalten hat, haben bereits einige Schritte in Richtung der bioinspirierten und biointegrierten Wertschöpfung stattgefunden.
So wird schon seit langem in der Gesundheits- und Ernährungsforschung unter anderem die biotechnologische Lebensmittelproduktion integriert, während die enormen Potenziale im Maschinen- und Anlagenbau sowie der Automobilwirtschaft, also etwa Leichtbau, Upcycling oder energieautarke Steuerungssysteme, bei Laien eher unbekannt sind. Besonders in der Materialentwicklung lässt sich die Wissenschaft jedoch schon seit Jahrzehnten von der Natur inspirieren, wie im Falle des Lotuseffekts. Eine Annäherung von Lebenswissenschaft und Technik kann daher zu biobasierten Materialien, neuen Textilien und Oberflächen inklusive neuer Fertigungsmethoden führen. Als Beispiele kann man selbstheilende Materialien (z. B. Beton), Leichtkonstruktionen, die Entwicklung kreislauffähiger Materialien mithilfe von KI oder Bioabbaubarkeit on demand nennen. Das Potenzial der Biointelligenz ist groß, auch in den Bereichen, in denen die Konvergenz der Wertschöpfung bereits vollzogen ist. Denn erst Austausch und Vernetzung der verschiedenen Branchen und Disziplinen ermöglichen es, neue Bedarfe zu erfassen und die wirtschaftliche Transformation zu vollziehen, die es braucht, um dem Klimawandel entgegenzutreten.4)
Sichtbarkeit erhöhen
Um die Biointelligenz inhaltlich weiterzuentwickeln und zu verstetigen, haben die Universitäten Hohenheim und Stuttgart, das Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut NMI sowie die Fraunhofer-Institute IAO, IBP, IGB und IPA im Juni 2021 den Verein Kompetenzzentrum Biointelligenz e. V. gegründet.3) Die Gründungsmitglieder sind alle Teil des seit 2019 agierenden Forschungsnetzwerks Biointelligenz. Im Fokus der Gründerinnen und Gründer des Vereins steht dabei, Innovationen mit einem positiven Effekt für Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft zu schaffen und die Sichtbarkeit des Forschungszweigs zu erhöhen.
Mehr über die Ziele des Kompetenzzentrums Biointelligenz e. V. und die Potenziale der Biointelligenz aus Sicht der Expertinnen und Experten können Sie in unserem Interview mit Prof. Dr. Thomas Bauernhansl, Vorstandsvorsitzender des Kompetenzzentrums Biointelligenz e.V., Prof. Dr. Julia Fritz-Steuber, stellvertretende Vorsitzende des Kompetenzzentrums Biointelligenz e.V. und Prof. Dr. Ralf Kindervater, Geschäftsführung BIOPRO Baden-Württemberg, nachlesen.